Der Staatskassenraub

Kapitel 1: Der Aktenvermerk

Der Aktenvermerk war älter als ihr Zorn.Zwischen vergilbten Formularen ihrer Mutter steckte ein dünnes, graues Blatt – ein Eintrag aus einer Zeit, in der Überleben als Betrug galt. Mascha Derovic hatte ihn nie vergessen. Jedes Mal, wenn sie den Namen Eben, Alfred, Dr. las, hörte sie wieder das trockene Rascheln von Papier und den Satz, der ihre Kindheit zementierte:„Leistungsbetrug festgestellt – Rückforderung veranlasst.“

Zwanzig Jahre später roch sie denselben Staub wieder. Nur diesmal lagen die Akten auf ihrem eigenen Tisch – nicht aus einem Sozialamt, sondern aus dem Finanzministerium der Bundesrepublik Deutschland. Und wieder war ein Name darin gestrichen worden: Aeternum GmbH. Eine Firma, die offiziell nie existiert hatte.

Es war kurz nach elf am Abend. Berlin hielt den Atem an, dieser Moment zwischen den Nachrichten und dem letzten U-Bahn-Zug.Mascha saß in ihrer kleinen Altbauwohnung in Neukölln, Laptop offen, die Schreibtischlampe war das einzige Licht.Vor ihr zwei Stapel Papier: links die alte Akte ihrer Mutter, rechts ein dicker Ordner, beschriftet mit einem einzelnen Wort in schiefer Männerhandschrift:„Staatskassenraub“.

Den hatte ihr Dr. Eben vor drei Wochen geschickt, kurz bevor sein Herz stehen blieb.

Ob Zufall oder nicht – im beigelegten Brief stand nur ein einziger Satz:

„Ich habe mich damals an das Gesetz gehalten. Ich sterbe, weil ich jetzt verstehe, dass das Gesetz die Kälte war.“

Mascha lehnte sich zurück. Der Satz war kein Geständnis. Er war ein Vermächtnis.

Sie öffnete den Entwurf auf dem Bildschirm: ein harmloser Fachartikel für FiskalWache.de, einem Blog für Steuerrecht, den kaum jemand las – außer den richtigen Leuten.Sie scrollte bis zum unscheinbaren Absatz in der Mitte, las den Satz laut:„Ermittlungsverfahren beendet: Unternehmen Aeternum GmbH wurde aus der Akte entfernt, da nicht systemrelevant.“Ein unscheinbarer Satz für alle – außer den Eingeweihten. Für den Finanzminister war es eine Sirene.

Mascha klickte auf „Senden“.Ein kleines Fenster poppte auf: Artikel veröffentlicht.Sie schloss den Laptop. Die Falle war gestellt.

Draußen begann es zu regnen. Der Ton auf dem Blechdach klang wie das Ticken einer Uhr, die jemand aufgezogen hatte.Mascha legte den Kopf in die Hände und wartete auf die Stille nach dem Sturm.

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